Manchmal spät nachts nach einem heißen Tag am Meer sitze ich in der Loggia und träume in den sternenklaren Himmel. Mir gegenüber die Kapelle von Montegrazie im Strahlenkegel der Scheinwerfer, um mich Dunkelheit und Stille nur unterbrochen vom
Zirpkonzert der Zikaden, von Glockengeläut und von fernem Hundegebell, das wie ein Crescendo anschwillt und wieder verstummt - irgendwie ist Ligurien, ist Italien für mich in diesem kleinen nächtlichen Kosmos verkörpert. Eine zweite Heimat, eine Wohlfühlheimat.
Kaum zu glauben, dass noch vor zehn Jahren Ligurien für mich eine leere Vokabel war. Zwar hatte ich Italien nahezu lückenlos bereist, Sizilien, das Trentino, Kalabrien, die Amalfitana, Venedig und immer wieder die Toskana, die zum Kristallisationspunkt meiner mediterranen Sehnsucht geworden war. Ligurien begegnete mir zum erste Mal in Gesprächen mit Kolleginnen in München, die dort alte Häuser ausgebaut hatten. Der Landstrich war mir fremd, auch die Schwärmereien konnten mich wenig erwärmen. Was konnte Ligurien schon bieten, was die Toskana nicht besser, schöner, imposanter zu bieten hatte?
Es war eines dieser Gespräche, das, zunächst unbemerkt, Weichen für mein Leben stellen sollte. Wie so oft saßen wir nach Redaktionsschluss noch zusammen. Die Unterhaltung drehte sich um eine weitläufige Bekannte, eine Kostümbildnerin, die in Ligurien ein altes Rustico restauriert hatte, das sie jetzt verkaufen wollte. Und unvermittelt traf mich die Frage: Warum kauft du das nicht. Ich konnte nur darüber lachen. Weder zog mich Ligurien an, noch hatte ich die Barmittel, noch noch noch... Nichts, aber auch gar nichts, ließ mich diesen Gedanken ernsthaft erwägen.
Aber irgendwo im Unterbewusstsein hatte er sich festgekrallt. Hatten mein Bruder und ich nicht schon des öfteren zu vorgerückter weinseliger Stunde davon geträumt, irgendwann einmal im Süden ansässig zu werden? Irgendwann, wenn wir, weiß Gott woher, die nötigen Mittel hätten. Ein Traum, immer wieder vage aus der Sehnsuchtsnische hervorgeholt, ohne je konkretisiert worden zu sein. Jetzt half uns eine völlig unerwartete Schicksalsfügung. Eine kleine Erbschaft, an die wir nie gedacht, auf die wir nie gehofft hatte, stand in Aussicht. Und da tauchte sie wieder an die Oberfläche aus meinen Unterbewusstsein, diese Frage: Warum kaufst du das nicht?
Eher beiläufig erzählte ich bei einem Familienfest davon. Und überraschenderweise sprang mein Bruder darauf an. Man könnte sich das ja mal anschauen. Anschauen koste ja nichts. Wir schaukelten uns hoch. Bis wir an einem Wochenende im April tatsächlich in unseren Autos saßen und - er aus Stuttgart, ich aus München - Kurs auf Ligurien nahmen.
Spätabends kamen wir an, erschöpft von der Fahrt und - das gestanden wir uns später - gefrustet von unserem ersten Eindruck. Das also sollte das vielgepriesene Ligurien sein. Die Fahrt auf der Autobahn, herunter aus den piemontesischen Bergen und von Genua aus hoch über dem Meer bis Imperia war ernüchternd. Tunnel reihte sich an Tunnel, Kurve an Kurve, dazwischen abgebrannte Wälder, kahle Felsen, nein, diese Landschaft konnte mit der Lieblichkeit der Toskana nicht mithalten.
Doch dann am nächsten Morgen passierte es. Wir fuhren zum ersten Mal von Imperia aus ins Val Prino. Dort, acht Kilometer vom Meer entfernt, in Dolcedo, hatten wir uns mit einer Maklerin verabredet. Die enge Straße führte uns durch ein weites Tal, auf dessen Anhöhen dicht an dicht, wie Adlerhorste, kleine ockerfarbene Dörfer klebten. An den Hängen lichte Olivenwälder , die in der Sonnen silbern glänzten, mit Natursteinen gemauerte Terrassen, mittelalterliche, windschiefe Brücken - es war als ob uns dieses Tal mit weit geöffneten Armen empfangen würde. Und wir nahmen diese Umarmung an. Wir fühlten uns vom ersten Augenblick an wohl, ja heimisch Und über alle Schwierigkeiten hinweg waren wir entschlossen: hier, ja genau hier wollten wir sein.
Schwierigkeiten gab es genug. Es dauerte zwei Jahre und viele Fahrten nach Ligurien, bis wir ein passendes Objekt gefunden hatten. Eine heruntergekommene, verlassene Dorfvilla in Bellissimi, mit einem angebauten Hasenstall und einer Wildnis von Garten. Niemand konnte sich vorstellen, dass man hier je wohnen könnte. Aber unsere Fantasie und unser Wunschdenken sträubten sich gegen allen Bedenken. Unser Ehrgeiz war geweckt.
Nach nur einem Jahr und trotz einiger Rückschläge verbrachten wir in unserem ligurischen Haus die ersten Ferien. Noch immer etwas ungläubig, noch immer staunend, dass wir es geschafft hatten. Dass unser Traum tatsächlich wahr geworden war.
Wenn wir jetzt nach Ligurien fahren, haben wir das Gefühl heimzukommen. Ein Gefühl, das mit jedem Urlaub, den wir dort verbringen, mit jeder Freundschaft, die wir schließen, mit jeder landschaftlichen Trouvaille, mit jedem sonnensattem Tag am Meer ein Stück intensiver, glücksbeladener und endgültiger wird.
Christl Bronnenmeyer