Freitag, 6. Mai 2011

Über allen Wipfeln ist Määäh

Von Ulli Kappler      Freitag, 19.00 Uhr  - Ein letzter Spaziergang mit dem Hund über die Hügel oberhalb von Cipressa. Wie jeden Abend. Und - auch wie jeden Abend - bleibt der Hund irgendwann sitzen und schaut empört zu mir rüber. Langweilig sind
diese Spaziergänge, wenn
kein Pinienzapfen oder Stöckchen fliegen. Aber der Hund hat Arthrose in allen Gelenken und Spondylose in der Wirbelsäule. Nicht überanstrengen, hat die Tierärztin gesagt. Leider hat mein Hund das nicht verstanden

Er ist also weit weg, als ich etwas sehe, das ich in der beginnenden Dämmerung  zunächst für zwei schmale Baumstümpfe halte. Aber die gehören dort nicht hin! Schließlich kenne ich jeden Blick aus jeder Perspektive auf diesem Hügel.

Plötzlich bewegen sich die Baumstümpfe. Alle beide.  Sieht aus wie schwarze Welpen, denke ich.  Hängeohren, viel zu lange Beine. Wem sind die denn weg gelaufen? Aber dann zittert ein zaghaftes, langgezogenes Määääh durch die Luft. Das sind Lämmchen! Schwarze kleine Lämmchen.
Ich antworte ihnen vorsichtig: Määääh. Und noch einmal: Määääh. Und siehe da – sie kommen auf mich zu.

Das aber kann mein eifersüchtiger Hund in der Ferne gar nicht leiden und humpelt bellend auf die Lämmer zu.  Verschreckt rennen sie Körper an Körper,  wie siamesische Zwillinge, ein paar Meter zurück. Überhaupt scheinen sie aneinander zu kleben. Jede Bewegung wird im Doppelpack ausgeführt – und wenn sie mir nicht so leid tun würden, müsste ich laut lachen. Sie sind höchstens zehn Tage alt, so wackelig, wie sie noch auf den Beinen stehen.

Was mach ich jetzt? Die Sonne geht langsam unter und ich kann sie unmöglich in der Nacht sich selbst überlassen. Weiß ich denn, ob es hier oben nicht Füchse, Marder oder Wildschweine gibt, die sich über unbeholfene Lämmchen hermachen?

Also nehme ich erst mal den Hund an die Leine. Dann rufe ich einen Freund in der Nähe an. Er muss kommen und auf die Lämmchen aufpassen, während ich den Schäfer suchen will. Ich ahne nämlich wo er ‚wohnt‘: im Steineichen-Wald unterhalb der schmalen Asphaltstraße zwischen Cipressa und Boscomare. Dort ist mir doch vor einiger Zeit ein Wohnwagen mit angrenzendem Pferch aufgefallen.
Zehn  Minuten später  halte ich in Rufweite des Wohnwagens. „Pastore“, schreie ich. Und als ein Hund bellt, noch mal: „Senta, pastore!“  Hören Sie, Schäfer! Klein und drahtig kommt er aus dem Wohnwagen zur Straße hoch.  Ein verfilzter Border Collie hinterher. Ja, das ist er, den ich mit der Herde gesehen habe.

„Ho trovato due piccoli agnelli neri sopra di Cipressa“, erkläre ich flüssig. Er schaut mich an. Etwas ratlos. Ich sage: „Agnelli. Määääh. Capisci?“ Ah, er versteht. „Agnelli, Määäh“, wiederholt er. „Si.“ Dann spricht er. Irgendwas, was jetzt ich nicht verstehe. Es ist jedenfalls nicht Italienisch. „Espagna?“ frage ich. „Roma“, sagt er. Aber kein Römer, denke ich, vielleicht ein Roma, wie Sinti. Oder vielleicht Rumäne? Die Sprache? Keine Ahnung. Es ist auch egal, ich muss ihm erklären, wo seine Lämmchen sind. Das tue ich mit Händen und Füßen. Er versteht, sagt: „Grazie“ und klettert den Berg hoch. „Halt!“, rufe ich, „Stopp! Ferma!“ Er kommt zurück. Das ist doch viel zu weit zum Laufen! „Macchina“, sage ich und zeige auf mein Auto, „tu con me!“ Er begreift: einsteigen. Den Hund schickt er zum Pferch zurück. Missmutig trollt der sich.

Mein Hund auf dem Rücksitz schnuppert in Schäfers Richtung. Er knurrt nicht, er schnüffelt nur. Und was er riecht, scheint seiner Nase zu gefallen  …. Ganz im Gegensatz zu meiner. Der Schäfer verströmt einen durchdringend ungewaschenen Knoblauchduft. Aber was spielt das für eine Rolle, wenn man Lämmchen retten will???

Oben auf dem Hügel sitzt der Freund bei den Lämmern. In gebührendem Abstand.  Der Schäfer springt aus dem Auto und versucht, sie zu packen. Das aber wollen die beiden nicht und schlagen aneinander geschmiegt Haken. Nach rechts, nach links, ein Stückchen grade aus. Der Schäfer immer hinterher. Mit ausgebreiteten Armen und einem gutturalen „Huuuhuuu“, treibt er sie Richtung Heimat. Das kann dauern, denke ich….

Am nächsten Tag, 9.30 Uhr
Ich sehe sie schon von Weitem auf dem Hügel. Die Herde, den Schäfer, den Hund. Der Schäfer lehnt im Schatten an einer Pinie, die Schafe grasen, der Hund wuselt eifrig drum herum. Hin und wieder ein kräftiges Blöken. Ich winke. Der Schäfer winkt sparsam zurück. Alles gut gelaufen, denke ich und nehme den Fotoapparat aus dem Bauchbeutel. Ich habe ihn extra eingepackt für den Fall, dass ich ihm noch mal begegne. „Foto?“, frage ich, als ich bei ihm bin? Er lächelt, steckt das Handy weg und stellt sich in Positur. Die Herde zieht schon weiter – und als Allerletzte trödeln die beiden Vermissten hinterher.

ch finde, sie sind in 2 Tagen mächtig gewachsen und machen im Vergleich zu vorgestern einen ziemlich selbstständigen Eindruck …