Der Wolf führt offenbar schon seit den frühen 1990er-Jahren wieder
ein heimliches Leben im Alpenbogen zwischen Ligurien, Piemont, dem
Aosta-Tal und der Lombardei. Hirten berichten gelegentlich über
Begegnungen, Bauern präsentieren
die Kadaver von gerissenen Schafen oder
Ziegen, und fordern
Entschädigung. Noch sind die Vorkommnisse so
selten, dass man sie ihnen gerne gewährt.
Das
Verhältnis zwischen Wolf und Mensch war in Ligurien - wie anderswo auch
- über die Jahrhunderte geprägt von realen täglichen Problemen und
irrationalen Ängsten. Die heutige Provinz Imperia, in der sich Wald und
offene Flächen abwechseln, war trotz der menschlichen Niederlassungen
ein geradezu ideales Wolfsrevier.
Dass der Mensch das Territorium für
seine Nutztiere beanspruchte, führte zwangsläufig zu Konflikten, vor
allem in entlegenen Bergregionen, wie Briga Alta und Triora. Nicht
umsonst sind gerade zwischen dem Monte Saccarello und dem Marguereis die
Geschichten, Legenden und Fabeln rund um Isegrim besonders lebendig
geblieben.
Im Mittelalter besiedelten die Ligurer selbst die entlegensten Winkel
der extremen Ponente, Begegnungen zwischen Mensch und Wolf wurden
zwangsläufig häufiger. Jagd und Weidewirtschaft dezimierten Wildschweine
und Gämsen, Schafe und Ziegen weideten jetzt auf Höhen und Hängen.
Berichte von Wölfen, die sich auf den Schlachtfeldern jener Zeit über
die Leichen der Soldaten hermachten und die Ausbreitung der Tollwut
taten das Ihre, um in der Bevölkerung Stimmung gegen den Wolf zu machen.
Die Angriffe infizierter Wölfe alarmierten die Bevölkerung fast im
gleichen Maße, wie die Überfälle der Sarazenen. 1532 berichteten die
Glaubensbrüder des Konvents von Taggia: „In dieser Zeit wüteten viele
Wölfe in die Region, die nicht nur Schafe fraßen, sondern auch Rinder
und Pferde und was am Schlimmste war, Menschen, unter ihnen den Sohn von
Giorgio Turdini".
Wölfen, Bären und Wildschweinen wurde mit Fallen und Fangeisen
nachgestellt. Die verbreitetste Form der Vorwärtsverteidigung aber war
die Jagd, uneingeschränkt, zu jeder Jahreszeit und in manchen Gemeinden
auch offensiv gefördert. So wurden in Pigna im Jahr 1563 für jeden
erlegten großen Wolf oder Bären 1 Pfund, 2 Dukaten bezahlt. Kopf und
Pfoten waren zum Beweis vorzulegen.
Die Situation verschlimmerte sich in den Wirren der napoleonischen
Zeit, mit einem Schwerpunkt von Wolfsattacken in den Tälern von Nervia
und Argentina. 1802 brachte eine tollwütige Wölfin zwischen Sanremo und
Nizza 18 Menschen den Tod.
Als auch die größe Treibjagd, die Ligurien je gesehen hatte, nicht
den gewünschten Erfolg brachte, legte man mit Strychnin vergiftete
Fleischbrocken aus. Mitte des 19. Jahrhunderts führte der
Bevölkerungsdruck zu einer Zuspitzung des Konflikts um Territorien und
Resourcen. Die Zahl der Menschen in der Bergregion der heutigen Provinz
Imperia war zwischen 1801 und 1861 von 30.000 auf 45.000 angewachsen
(heute leben dort gerade noch 20.000), „moderne" Zeiten waren
angebrochen, die Wälder abgeholzt. Die Ausrottung des Raubtiers war nur
noch eine Frage der Zeit. Bezahlte Jäger dezimierten seine Zahl, die ab
1863 stetig abnahm. Einige Gebiete blieben noch für ein paar Jahre
„Wolfsland", die Zone oberhalb von Sanremo etwa, zwischen Bignone und
Ceppo. Auch der Monte Torraggio, das Hochtal der Roja, Triora und das
obere Argentina-Tal boten dem Gejagten letzte Rückzugsmöglichkeiten.
1889 wurde schließlich in Rocchetta Nervina offiziell der "letzte
Wolf" Liguriens erlegt. Doch die Jahrhunderte des Zusammenlebens haben
ihre Spuren hinterlassen. In Ortsnamen, Sprichwörtern und Redewendungen
ist der Wolf in Ligurien noch sehr präsent. Der Passo del Lupo, östlich
des Monte Guardiabella, erinnert an ihn. Auch Cantalupo bei Porto
Maurizio und das Val Lovaira bei San Bartolomeo führen den Wolf im
Namen.
Und wenn man heute in Mendatica sagt Scüru cumme in tu cü au luvu
(italienisch: "scuro come nel culo del lupo"; deutsch: „Finster wie im
A.... des Wolfes") geht auch das auf jene Zeit zurück, als die Wölfe in
Europa noch unter uns waren.
Jetzt sind sie zurück.